Das wollten sie sich nicht gefallen lassen – junge Rebellen in der NS-Zeit
Lesung zu den Edelweißpiraten zog die Oberstufenklassen der Michaeli-Schule an
Widerstandsgeist? Ein Sich-nicht-mit-den-Verhältnissen-Zufriedengeben und ein großes Unverständnis bei den Herrschenden? All dies passt zu Jugendbewegungen, aktuelle Strömungen einbezogen, und beweist, dass jede Generation sich ihre eigenen Rechte z.T. hart erstreiten muss. Dies gilt besonders schmerzlich auch für jene Jugendlichen, die noch gar nicht so bekannt sind, wie sie es verdient hätten: die Edelweißpiraten, die es wagten, sich mit den Nazis anzulegen.
Die Michaeli-Schule hatte am 1. Juli 2019 den Autor Dirk Reinhardt zu einer Lesung für die Klassen 9 bis 12 eingeladen, weil er sich als Autor einen Namen mit seinem Roman „Edelweißpiraten“ gemacht hatte und dies gut in die unterrichtlichen Zusammenhänge der verschiedenen Oberstufenklassen passte.
Reinhardt, gebürtig im bergischen Land, nun in Münster ansässig, promoviert in Geschichte und Autor mehrerer Jugendbücher, führte die Schüler*innen gekonnt an das Thema heran, indem er erläuterte, dass die Edelweißpiraten „einfach ihr letztes bisschen Freiheit“ behalten wollten, die im Grunde gar nicht politisch gewesen seien. Sie seien Arbeiterkinder gewesen, lebten demnach in Arbeitervierteln und mussten für Hitlers Ziele in den Fabriken die Rüstungsproduktion gewährleisten. Diese harte Arbeit ging bis zu 10, 12 Stunden und ließ den Jugendlichen kaum Freizeit. Es kam sogar noch übler, da sie in ihrer Freizeit die Veranstaltungen der Hitlerjugend (HJ) bzw. des Bundes deutscher Mädel (BdM) besuchen sollten. Das aber war zu viel! Schon die Uniform, die eindeutig darauf verwiesen, dass es bald schon in den Krieg gehen könnte, waren nicht in ihrem Sinne. Unzufriedenheit brach sich Bahn, denn alles war in dieser Zeit von oben bestimmt oder gelenkt. Doch ein Boykott der HJ war auch riskant, denn damit schaffte man sich Gegner. Sich einzuschüchtern kam bei den meisten dieser Jugendlichen nicht in Frage. Und so kam es zu Straßenschlachten und regelrechten Schlägereien mit der HJ, dem auch die Polizei zunächst nicht Herr werden konnte. Also machten die jungen Rebellen Bekanntschaft mit SS und der Geheimen Staatspolizei, wenn auch zunächst nur, indem sie registriert wurden. Reinhardt verknüpfte geschickt historische Fakten, die er intensiv recherchiert hatte, mit fiktionalen Figuren seines Romans, was sehr zur Anschaulichkeit des Themas beitrug.
Die meist 14-18-jährigen, oft männlichen Piraten dachten, dass es nicht darauf ankäme, was man mache, als darauf, dass überhaupt etwas gemacht werde. Vor allem in Köln, aber auch in anderen Städten des Rheinlands und Westfalens schlossen sie sich in mal mehr mal weniger festen Gruppierungen mit Tarnnamen zusammen. Viele Mittel hatten sie nicht, doch Mut und einen gewissen Einfallsreichtum. So erfuhren die Zuhörer von Reinhardt, dass die Briten in den Bombennächten auf Deutsch verfasste Flugblätter abwarfen, die zu lesen natürlich verboten waren. Und wer schnell und findig war, konnte vor der zu Aufräumarbeiten beauftragten HJ an diese Flugblätter gelangen. Das war ihr Ansatz: Sie sammelten viele Flugblätter, um sie später in einer gezielten Aktion in die Postkästen der Viertelbewohner zu werfen.
Doch wurde das natürlich bekannt, da sie dem Ortsgruppenleiter der NSDAP ebenfalls mit ein Flugblatt zukommen ließen. Sie wurden verraten und ins berüchtigte Gestapo-Gefängnis, das berüchtigte ELDE-Haus einbestellt.
Es ist ein Zeichen besonderen Mutes, dass die kleine Gruppe der Aktiven, die sich dort den brutalen Verhörmethoden ausgesetzt sahen – massive Kopfwunden und Tritte in den Unterleib sind nur einige der Maßnahmen – doch noch einmal frei gelassen wurden, weil sie sich standhaft gezeigt hatten und sich nicht verrieten. Solange die Gestapo den Edelweißpiraten noch keine politischen Aktionen nachweisen konnte, setzte sie in den Verhören auf brutale Einschüchterung, entließ sie danach aber wieder, in der Hoffnung, dass sie den weg in HJ nun wieder finden würden. Sobald die Gestapo Beweise in der Hand hatte, wurden die Jugendlichen ins Gefängnis in Brauweiler oder ins Jugend-KZ in Moringen überstellt; diese Einrichtung haben dann viele nicht mehr lebend verlassen. Eine ihrer größeren Aktionen war schließlich, dass sie Züge mit Waffen zur Fortsetzung des Krieges zum Entgleisen brachten. Und natürlich schlug die Staatsmacht erbarmungslos zurück – Erschießungen auf der offenen Straße inklusive. Doch dies sollten sich die interessierten Leser durch eigene Lektüre erschließen. Eine Buchhandlung hatte dafür einen kleinen Bücherstand bereitgestellt.
Die anregende Veranstaltung endete mit einer Diskussions- und Fragerunde, bei der unter anderem herauskam, dass es Mädchen bei den Piraten gab, die zwar nur einen Anteil von um die 25 Prozent hatten, aber in der streng nach Geschlechtern getrennten NS-Zeit auch eine besondere Art der selbstgewählten Koedukation darstellten, auf jeden Fall aber eine gewisse Attraktivität für die (männliche) Teilnahme erbrachte. Auch ergab sich aus Rückfragen, dass die HJ zwar angeblich alle als gleichbehandelt oder -gestellt sehen wollte. In Wirklichkeit wurden die Verbände jedoch von zwei Jahre Älteren angeführt, die zudem meist als Gymnasiasten über die „einfacheren“ Volksschüler bestimmten. Das wollten sich die Edelweißpiraten einfach nicht bieten lassen. Ähnlich wie die heutige Generation, die gerechte und vereinbarte Prinzipien nicht einfach geopfert sehen will, wobei natürlich in der NS-Diktatur mit aufmüpfigem Verhalten schnell auch Leib und Leben in Gefahr geraten konnten, wovon manch einer der Edelweißpiraten betroffen war. Eines aber zeigte die Lesung eindrücklich: diese mutigen Jugendlichen verdienen es, rehabilitiert zu und bekannter zu werden. Es ist Dirk Reinhardts Verdienst, dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet zu haben.
Bereitwillig gaben die Zuhörenden nachher im Klassenraum noch Rückmeldungen zur Veranstaltung, die bisweilen sehr positiv ausfielen. Sie äußerten sich in der Weise, dass „die Veranstaltung interessant war“ und „sehr gut gefallen“ habe. Der Einblick in Zusammenhänge wie das „Schulsystem“, der kurzweilige Vortrag und „dass man dem Roman mit Spannung folgen“ konnte, war anderen aufgefallen. Auch verhalf die „wahre Geschichte“ dazu, dass man sich noch mehr auf das Thema „einlassen“ konnte. Dirk Reinhardt wurde rundweg als kompetent, „sympathisch“ und „authentisch“ wahrgenommen. So betrachtet kann man die Veranstaltung als Erfolg bezeichnen und bei nächster Gelegenheit gerne eine Fortsetzung – in welcher Weise auch immer – erfolgen.
Sven Hansen, Oberstufenlehrer Deutsch und Geschichte